Lernen S' a bissl Geschichte!
Aktualisiert: 10. Juli
Bundeskanzler (1970-1983) Bruno Kreiky zu einem Journalisten im Foyer nach dem Ministerrat
Hoch auf dem Monte Rite, einem selbst nicht sonderlich spektakulären Berg mit 2183 Metern Höhe, etwa 30 Kilometer südlich von Cortina d'Ampezzo hat Reinhold Messner 2002, im UNESCO - Jahr der Berge, das MMM Dolomites eröffnet. Es ist eines seiner 6 Messner Mountain Museen. Das langgestreckte Gebäude war schon 1912 - 1914 von der italienischen Armee wegen der hier hervorragenden Aussicht errichtet worden. Es war somit schon vor den Jahren des erbitterten Gebirgskrieges zwischen Italien und und den Mittelmächten Österreich-Ungarns und Deutschland 1915 - 1918 fertiggestellt. Enormer Aufwand wurde hier getrieben, die Errichtung eines Gebäudes, von Geschützstellungen und der erforderlichen Straße zu dieser Höhe wurden als notwendig erachtet, um verdächtige Bewegungen auf den umliegenden Bergen zu beobachten.
Auf dem begehbaren Dach des renovierten Gebäudes kann ich mich nicht und nicht an dem 360°-Panorama sattsehen. Noch einmal und noch einmal drehe ich mich um die eigene Achse. Welche Herrlichkeit und Macht liegt hier auf Augenhöhe vor mir, neben mir und hinter mir! Kreativ verglaste, wie Bergkristalle aufragende Glaskanzeln harmonieren nun mit der atemberaumenden Rundumsicht tief in die Bergwelt der Dolomiten. Reinhold Messner nennt sie immer die schönsten Berge der Welt. Wer will ihm da widersprechen!
Für die Berge, die vor 250 Millionen Jahren das Ufer eines tropischen Meeres waren und noch Muscheln aus dieser Zeit in ihren Flanken enthalten sind jene 100 Jahre weniger als ein Augenblick, die seit 1915 über sie hinwegzogen. Welch einen anderen Ausblick aber boten sie den Soldaten des Gebirgskrieges, die das gleiche Panorame wie ich jetzt mit ihren Feldstechern auf verdächtige Beobachtungen abzusuchen hatten. An den Bergen liegt es nicht. Etwas anderes hat sich hingegen verändert. Diese Idee des veränderten Ausblicks greift Reinhold Messner auf und verleiht den ehemaligen Aussichtskanzeln über den Geschützen von damals nun einen neuen Inhalt.
Weiter südlich in Venetien, noch im Raum der Proseccostraße wird der Ortsname Bassano del Grappa vorwiegend mit dem vorzüglichen, aus frischen Traubenresten destillierten Grappa in Verbindung gebracht. Tatsächlich aber ist es der 1775 Meter hohe Monte Grappa, von dem der Ort schon immer seinen Namen bezog. Dieser Berg wurde in beiden Weltkriegen Schauplatz erbitterter Kämpfe. Nach dem Seitenwechsel Italiens zu den Allierten 1943 beging hier die deutsche SS schlimme Kriegsverbrechen, die dem Gebirgsstock traurige Bedeutung verliehen, Erst 1935 war der Berggipfel durch die dort errichteten riesigen Kriegsdenkmäler mit symbolischer Bedeutung aufgeladen worden. Sie sollten an die Ereignisse des 1. Weltkrieges erinnern, der ebefalls in diesem begrenzten Gebiet ungewöhnliche Formen annahm. Vom slowenisch-italienischen Grenzfluss Isonzo (slow. Soca) hatte die österreichisch-ungarische Armee vom 24. Oktober bis 9. November 1917 mit deutscher Unterstützung in der erfolgreichen 12. (!) Isonzoschlacht einen entscheidenden Sieg errungen. Weit zurück in den Westen, zurück hinter die Piave in die Stellungen am Monte Grappa konnte man die geschlagene italienische Armee zurückdrängen. Mit Hilfe der militärischen Unterstützungen durch Frankreich, Großbritannien und den USA gelang von hier aus die letztlich entscheidende erfolgreiche Gegenoffensive, die am 1. November 1918 mit der Niederlage der österreichisch-ungarischen Armee in der 3. Piave-Schlacht bei Vittorio endete. Dies führte zur etwas unkonsequenten Umbenennung auf Vittorio Veneto. Als so wichtig galt dieser Sieg in Italien, dass der Name Vittorio Veneto sogar Schlachtschiffe, Flugzeugträger, Straßen, Plätze und Denkmäler ziert.
Heute ragt dort auf dem schönen Piazza Flaminio ein spektakuläres Haus aus venezianischer Zeit aus einem fast verfallenen "centro historico" heraus. Zu seiner bunten Fassade passt auch die große Anzahl an Radfahrern, die sich hier stärken. Sogar einem jungen kanadischen Ehepaar begegne ich hier, das samt ihrer 2 Kinder auf ihren "Wohnrädern" in Ihrer Welttour per Rad in Vittorio Veneto Station macht. Unter dem historischen Plakat (s. o.) über die Ereignisse in der Stadt im Jahre 1918 hören wir auch breitesten österreichischen Dialekt aus mehreren Gruppen bestens ausgerüsteter und auch bestens gelaunter Radfahrer, die von der Weinregion offensichtlich angetan sind.
Die landschaftlich reizvollen, heute so erholsamen Berge und Täler Norditaliens alleine haben eine Million und 250 Tausend Menschenleben alleine im Gebirgskrieg des 1. Weltkriegs zu den insgesamt 17 Millionen Toten beigetragen. Spuren einer menschlichen Geschichte voller Gewalt begegnen uns freilich überall. In dem mir besser bekannten Europa sind es bereits unzählbar viele. Wie viele Menschen starben allein auf europäischem Boden bereits unmittelbar in Kriegen, wie viele davon Soldaten, wie viele Zivilisten? Doch sowenig man einen solchen Gedanken auf Europa beschränken kann, sowenig kann man es im letzten Jahrhundert belassen. Meine Generation hat noch bei ihren Eltern erlebt, dass sie in ihrer Lebensplanung die Möglichkeit niemals ausschließen wollten, dass wieder "ein Krieg kommt". So wie man sie früher nicht gefragt hatte, würde man sie auch künftig nicht fragen. Der Krieg kommt, wenn er kommt. Punkt.
Momente wie der Blick über die MMM-Glaskristalle am Monte Rite und in die plaudernden Radfahrer unter dem historischen Plakat von Vittorio Veneto erfüllen mich mit großer Dankbarkeit - aber auch Demut. Ohne eigenes Verdienst bin ich in eine "Nachkriegszeit" hineingeboren. Ermahnt fühle ich mich, die gegenwärtigen Freiheiten nicht einfach zu konsumieren, als könnte man sie jederzeit nebenan nachkaufen. 500 Kilometer von Wien entfernt wird gerade wieder Leben ohne Mordanklage vernichtet, Raketen auf Wohnblocks geschossen, weil eben Krieg herrscht. Und - das weiß doch schon jedes Kind - im Krieg erlaubt der Staat das Töten.
In Anblick der Verheerungen des zweiten Weltkriegs sind einige Entschlüsse gereift, Krieg nicht mehr nur als Gottesurteil über uns Menschen hinzunehmen, sondern die Möglichkeit der Menschen zu be- und ergreifen, etwas zu seiner Vermeidung zu tun. Dazu gehörte aber auch, nicht nur neue Apelle auszusprechen, auf die moralische Unanständigkeit eines Angriffskrieges zu pochen, sondern auch intelligente Strukturen zu dessen Vermeidung zu schaffen. Als Frankreich, Deutschland, Italien und die BENELUX-Länder 1951 eine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGKS schufen, geschah dies mit dem erstaunlichen weitblickenden Zweck, damit keinem Land mehr den Aufbau einer gegen die anderen gerichteten tödlichen Kriegsindustrie zu ermöglichen. Durch strukturelle Maßnahmen wollte man schon lange vor einem ersten Schuss an irgendeiner Grenze damit beginnen. Die Vermeidung eines weiteren Krieges auf europäischem Boden liegt somit tatsächlich in den Genen der Europäischen Union, zu der die EGKS bekanntlich 1993 über die Stationen EWG (1957) und EG (1967) wurde.
Dieses wertvolle Erbe auch für eine friedliche und prosperierende Zukunft zu nutzen, stellt sich nach Jahren selbstverständlich gewordener Fortschritte (Grenzübertritte, Euro) und Erweiterungen als zunehmend anspruchsvolle Aufgabe heraus. Irgendwo zwischen den Polen der Klagen über den EU-Wahnsinn, (jüngste EU-Wahlen!) und dem verführerisch bequemen "too big to fail" sind wir als nicht nur zu Wahlen berechtigte Bürger mehr denn je aufgerufen, selbst Verantwortung zu übernehmen. Die weithin gültige gemeinsame Währung und die Reisefreiheit sind immer noch eine starke Ermutigung, Europa auch zu bereisen und seine immer wieder unglaubliche Vielseitigkeit kennenzulernen. Der dort überall auf Schritt und Tritt anzutreffenden Geschichte nicht auszuweichen zähle ich zu den nicht geringsten dieser Verantwortungen für die Zukunft. Wer Kreisky's Bonmot selbst gehört hat, mag im Vorteil sein, aber es gilt für uns alle: nur durch ein waches Verständnis unserer Vergangenheit treffen wir EU-Bürger die richtigen Entscheidungen für unsere Zukunft!
Um den hervorragenden Vortrag über die Zukunft der EU von Dr. Martin Selmayr in der Diplomatischen Akademie am 3. Juli 2024 wird es am kommenden Montag hier gehen:
AFTER THE ELECTIONS: WHATS NEXT FOR EUROPE.
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