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AutorenbildFlorian Kliman

Moria und der Anstand

Aktualisiert: 13. Okt. 2020

Perspektivenwechsel in der Praxis - Szene 1


Vorrede


Vor einer Woche habe ich eine Lanze für den bewussten Perspektivenwechsel gebrochen. Dabei habe ich mich zu der Behauptung verstiegen, dass auch zur Besserung des vergifteten politischen Klimas in Österreich ein bewusster Perspektivenwechsel entscheidend beitragen würde.


Auf diese Idee brachte mich die Entdeckung, dass von Traunkirchen aus gesehen das Gipfelkreuz des Traunsteins unterhalb des Traunsteinhauses zu stehen scheint. Das ist natürlich nicht der Fall. Die Lösung des Rätsels ist in diesem Fall naheliegend: auf dem Weg zum Laudachsee entlang der Nordflanke des Traunsteins sieht es nun doch wieder anders aus. Als allzu platt könnte man diesen Vergleich kritisieren. Doch haben einige Leser doch den Ball aufgenommen, mit Likes und sogar Kommentaren geadelt. Eine erfahrene Eheberaterin schrieb, dass dies für sie eine tagtägiche Routine sei. Nur wenn es gelingt, wenigstens für einige Gedanken lang die Sichtweise des anderen einzunehmen, kann überhaupt an eine Problemaufarbeitung gedacht werden. In einer anderen Zuschrift hieß es auch: Perspektivenwechsel, da hast du schon recht, aber es fällt den Menschen halt sehr schwer.


Zögerlich wage ich mich daher daran, an mögliche Szenarien für einen Perspektivenwechsel zu erinnern - und mir dabei sehenden Auges auch schon mal ordentlich die Finger zu verbrennen. Im Idealfall allerdings könnte sich ja sogar eine Leserin oder ein Leser finden, der seine Ansicht darlegt und sich die Mühe macht, sie auch zu begründen. Genug aber der Vorrede.


Heute Szene 1:

Moria und der Anstand

Quelle: Wikipedia (Faktengebunde - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0


Wo ist bitte Moria?

Hinter dem roten Marker der untenstehenden Karte verbirgt es sich! Die geografische Lage des Ortes Moria ist tatsächlich bedeutsam. Sie erklärt bereits zu einem großen Teil die Tragödie, die sich hier abspielt. Er befindet sich auf der Insel Lesbos, am östlichsten Rand der Ägäis, sehr nahe der türkischen Festlandgrenze. In Moria befindet sich eines von drei Auffanglagern, für maximal 3000 Personen geplant (was immer das heißen mag) und von ca. 13.000 Personen belegt (Angaben darüber schwanken). Die auf Lesbos einlangenden Flüchtlinge kommen überlicher Weise auf Schlauchbooten vom türkischen Festland, das im Norden 17 und im Osten 15 km entfernt ist. Die Insel ist 2015 von einer Urlaubs-Trauminsel zur Trauma-Insel geworden. Mit überschaubarem Erfolg versucht man auch noch im Corona-Katastrophenjahr 2020, einige hartgesottene Touristen im Westen der Insel von der Realität auf dem Rest der Insel abzuschirmen.


Wie in einem schlampig geführten, chaotischen Gefängnis hat sich dort neben dem hygienischen Albtraum auch ein Albtraum an Unrecht etablieren können. Bezeichnend zum Beispiel das grassierende Problem, dass sich einige der dort viel zu lange schon Gestrandeten auf den Diebstahl von Pässen und anderen Papieren spezialisiert haben... Verbunden mit den Nachschublinien auf der anderen Seite der Meeresenge ist hier eine kriminelle Subkultur entstanden, die in dieser Form einem Drachen mit 100 Köpfen gleicht. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass jedes der menschlichen Einzelschicksale untrennbar mit diesem Nährboden der Ungerechtigkeit gesehen werden muss.


In einem Blog kann unmöglich ein einigermaßen umfassendes Bild dieser Insel gegeben werden. Trotzdem kann ich nur wärmstens empfehlen, sich einmal den harten Fakten auf diesem Außenposten der EU zu stellen. Es fällt mir schwer, auf die Darlegung weiterer bezeichnender Fakten hier zu verzichten, da auch hier das Wissen um die Fakten entscheidend für das Entkommen aus der schieren Erschütterung helfen kann. Als aufschlussreiche Einstiegslektüre möge der Artikel im Berliner Tagesspiegel dienen.

Die Situation dort ist naturgemäß schwer in der Oberflächlichkeit der Tagespolitik zu verarbeiten. Auch die täglichen Nachrichten haben nun schon einige Tage nicht mehr von dort berichtet. Aktuell gabe es heute, Montag in den Hauptnachrichten einen Filmbeitrag, dass 700 Personen auf das Festland gebracht wurden. Wie wird dort abseits der Kamera der Alltag aussehen? Wie muss die Corona-Pandemie noch zusätzlich Verwirrung, Verunsicherung und Konflikte vermehrt haben? Die immer wieder unterstellte Absicht der regionalen griechischen Behörden, die Lager möglichst abschreckend zu halten, tut ihr übriges. Dabei würde auch völlige Überforderung ausreichen - was ändert das?


Ohnmächtigkeit und Hilflosigkeit übermächtigt endgültig jeden, der von einer ohnhehin unmöglich vorstellbaren "Verschlimmerung der Situation" der dort ohnehin katastrophalen Lage durch den Brand liest. Da muss man doch etwas tun! Aber was? In der heimischen Innenpolitik prallen ob dieser Sitution einmal mehr verschiedene Standpunkte mit einiger Brutalität aufeinander.


Die eine Perspektive

Die eiserne Weigerung des Bundeskanzlers Kurz, Insassen des Lagers in Moria in Österreich aufzunehmen wird von vielen als unerträglich kalt, rücksichtlos und fremdenfeindlich verurteilt. Besonders seine Benennung von Übernahmen kleiner Zahlen von jugendlichen Moria-Insassen als "Symbolpolitik" wurde als völlig unakzeptabler Zynismus kritisiert. Jedem Herum-Vernünfteln über die geringe Wirkung kleiner humanitärer Aktionen steht der menschliche Impuls zu helfen unversöhnlich gegenüber. Die von Kurz gegebenen Begründungen können jedenfalls gegen diese Emotionen nicht ankommen. Enttäuscht, ja empört von seiner Verweigerung eines Eingehens auf diese Erwartungen mehrt indes die Ablehnung all seiner politischen Entscheidungen. Auch Kooperation auf anderen Gebieten wie etwa dem Vorgehen in der nicht ganz unwichtigen Corona-Pandemie geht nur noch mit größtem Unwillen und hörbarem Zähneknirschen vonstatten. Falls überhaupt, kann nur unter Bewahrung eines eigenen Sonderweges zugestimmt werden. Auch dies ist undenkbar ohne Präsentieren von angeblich arrogant ignorierten Gegenstimmen und unter heftiger Kritik an allem, was der "Bund" da schon wieder verbockt. Der politische Preis für seine konsequente Verweigerung ist also für den Bundeskanzler und seine Regierung sehr hoch. Wenn dann noch eine wichtige regionale Wahl wie derzeit in Wien bevorsteht, scheint jedes kooperative Wort endgültig unmöglich. Ein Einräumen einer nicht ganz von der Hand zu weisenden Vernunft in den Argumenten kommt keinesfalls in Frage. Immerhin weiß man hier das Bauchgefühl vieler Menschen auf seiner Seite. Einige Male schon habe auch das Zitat aus dem jüdischen Talmud gehört: wer einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt. Ob diese berührende Aussage tatsächlich auf die Flüchtlingssituation auf Lesbos anwendbar ist, wage ich trotzdem zu bezweifeln.


Eine andere Perspektive

Kann es angesichts der menschlichen Tragödien überhaupt eine andere Perspektive geben, die ein zu Gefühlen und zu Anstand fähiger Mensch einnehmen kann? Zur Klärung dieser Frage ist es vielleicht ratsam, einen Blick auf die alternativ vorgeschlagenen Vorgangsweisen zu richten. Diese reduzieren sich auf eine Aufnahme von angesichts der Realitäten auf Moria überschaubaren Anzahl unbetreuter Jugendlicher. Punkt. "Holt sie einfach raus" ist nicht zu überhören, nicht zu übersehen, leicht zu verstehen. Die tatsächlich durchgedrungenen Vorschläge und die kolportierten Zahlen allerdings nehmen sich in Relation zur dortigen Not auch nicht unbedingt nachhaltig überdacht aus. Nach dem Motto, nicht einmal das macht er, sind aber die jeweils genannten Zahlen ohnehin zur Nebensache verkommen. Allerdings steckt in der substantiellen Schwäche der Gegenvorschläge durchaus auch ein bedeutendes politisches Problem. Inzwischen sind auch bereits drei Wochen vergangen. Die mutigen Bürgermeister, die mit konkreten Zahlen, wieviele sie übernehmen würden, zitiert wurden haben es nicht geschafft, eine gemeinsame parteiübergreifende Initiative zu organisieren, die dann auch wirklich als ein Gegenvorschlag wahrgenommen und überdies bedeutend schwerer ablehnbar würde.


In einer Karikatur sah ich unter dem Titel "Hilfe vor Ort" den Kanzler Stacheldrahtrollen von einem LKW entladen. Diese Karikatur schildert recht gut, wie negativ alle Aussagen über Hilfe vor Ort inzwischen gesehen werden. Unzweifelhaft ist derzeit nur eine Hilfe beim Wiederaufbau oder der Befestigung der Lager vorgesehen. Das kann nun schwerlich als Beitrag zu einer dauerhaften Lösung "vor Ort" gesehen werden. Vor Ort zu helfen wurde auch immer in einem Atemzug genannt mit dem hohen Anspruch, die Ursachen der nun schon in die Jahre gekommenen Flüchtlingskrise zu beheben.

Schon ein einziger Blick auf die obige Karte der Ägäis macht klar, dass es hier nicht um eine einzige Ursache für ein humanitäres Problem nach einer Brandkatastrophe geht. An Ursachen an dieser Situation besteht nämlich wahrlich kein Mangel. In seiner Denkweise muss man Kurz immerhin zugestehen, eine der tatsächlich bedeutendsten Ursachen des Problems ins Visier genommen zu haben: die Migrationspolitik der EU.


Als Politiker, der die Realitäten der Konferenzen der EU, ihre Entscheidungswege durchaus in der Praxis erlebt hat, sieht der Kanzler darin eine unzulässige Abschiebung der schon viele Jahre lang sträflich vernachlässigten Verantwortung der EU, nun auf die Mitgliedsstaaten wieder mit einer Anfrage auf Übernahme von Kontingenten Druck auszuüben. Tatsächlich ist in Anbetracht des oben Festgestellten durchaus zu hinterfragen, wie die Performance der EU an dieser für ihren Zusammenhalt extrem wichtigen Spot so dürftig bleiben konnte. 2020, das ist immerhin 5 Jahre nach 2015! Es ist durchaus keine Verkürzung der Situation, die Verweigerung gegenüber den humanitär eigentlich völlig logischen Vorgangsweisen vor allem als eine Kritik an der bislang fehlenden Handlungsfähigkeit der EU im Umgang mit den Flüchtlingsströmen an den Außengrenzen zu verstehen. Der Unwillen, Alleingänge des Duos Merkel/Macron gegenüber Hr. Erdogan einfach als Realpolitik der EU zu schlucken, ist nicht nur beim österreichischen Kanzler angewachsen. Verein-barungen wie der Flüchtlingspakt mit der Türkei - von türkischer Seite genüsslich zelebriert als willkommene Möglichkeiten, Salz in offene Wunden der EU zu streuen - müssen dringend von echten EU-Verträgen mit diesen schwierigen Nachbarn abgelöst werden. Auch die Nordafrika-Initiative ist bis zur Wahrnehmungsgrenze zusammengeschrumpft. Wer die russischen Bombardements auf den Norden Syriens und den ungeheuren Strom von Flüchtenden aus Syrien in die Türkei, aufgemischt mit der türkischen Kurdenpolitik an der syrischen Grenze verfolgt hat, musste nicht allzu weit in die Zukunft hinein spekulieren, um hier die Flüchtingsströme der nächsten Jahre zu erkennen. Falls da jemand Europa destabilisieren hätte wollen, der hätte da schon mal auf Ideen kommen können.


Diese politische Dimension des Brandherdes Moria zu verleugnen, muss dem Vollblut-Politiker Kurz notgedrungen als ein absichtliches Wegschauen von einem der schwierigsten Aspekte der EU-Politik erscheinen. Vor diesem Hintergrund ist auch seine Abwertung humanitärer Einzelaktionen als Symbolpolitik ein nicht mehr so unverständlicher, unmenschlicher kalter Schachzug. Signale, mit ihm auch in der Erhöhung des Drucks auf die EU mitzuziehen, könnten zusammen mit intelligenten Gegenvorschlägen an seiner harten Haltung gegen eine humanitäre Einzelaktion vermutlich mehr ändern als ihn weiter als aalglatten Machtpolitiker madig zu machen.

Gangbare Wege


Die vielgeschmähte Hilfe vor Ort wurde bislang noch nicht von konkreten orchestrierten Vorschlägen in den Schatten gestellt, die den Kanzler wirklich herausgefordert hätten. Seit bald 3 Wochen ist hier nicht viel weitergegangen. Dabei könnten regionale, von "unten" kommende Meldungen zur Aufnahmebereitschaft auf Gemeindeebene überhaupt einen Durchbruch bringen. Wenn sich diese formieren und der Bundesregierung nicht mehr ablehnbare Vorschläge machen, wäre ein Einschwenken wesentlich wahrscheinlicher als durch eine auf alle Poltikfelder - insbesondere - der Coronapandemie ausgeweitete Fundamentalopposition in der weiteren Polarisierung das Heil zu suchen. Immerhin sind nicht alls SPÖ-Gemeinden so begeistert, nicht alle ÖVP-Gemeinden so ablehnend gegenüber einer humanitären Aufnahme zusätzlichen Hilfesuchenden.


Bei genauerem Hinsehen auch eine Position denkbar, die die jeweils andere Perspektive zuallererst einmal nicht moralisch vorverurteilt, sondern sie als Ergänzung der eigenen Sichtweise gelten lässt. Da man ohnehin nicht alle Menschen mit abweichenden Ansichten abschaffen kann, kann aus dieser Not sogar die Einsicht wachsen, dass diese fremde Perspektive zu einem wesentlich runderen Gesamtbild der Situation beiträgt. Anstatt jede humanitäre Soforthilfe so rigoros auszuschließen ließen sich dafür neue intelligente Allianzen mit der hilfsbereiten Zivilgesellschaft schmieden und integrativ unterstützen.


Die Niederungen des Integrationsalltags in Österreich vor dem Hintergrund enormen Drucks auf dem Arbeitsmarkt macht einen sorgfältiger Umgang mit dem Hereinholen von Menschen tatsächlich menschlicher als ein vorprogrammiertes Scheitern der Integration. Integration kann nicht nur an böser Ausländerfeindlichkeit scheitern, sondern auch an Überforderung des Schulwesens und des Arbeitsmarktes. Integration ist erfahrungsgemäß durchaus verkraftbar für Kindergarten, Schule Berufsausbildung und Arbeitsmarkt ebenso wie im sozialen Zusammenleben und sogar eine große Bereicherung für Gesellschaft sein kann, wenn - und hier ist der überaus unangenehme Haken: wenn es nicht zu viele werden, die da integriert werden sollen. Wer mit Lehrern gesprochen hat, die eine Klasse mit 80 % Sprachunkundigen unterrichten durften, weiß, was ich meine. Auch alle Regierungs-kritiker könnten daher mit ihrer Expertise beitragen zu einer Migrationspolitik mit Augenmaß.


Gleichzeitig kann man damit ernst machen, auch die EU in die Pflicht zu nehmen, die dahindümpelnden Initiativen an den Hotspots Griechenlands, Italiens und Spaniens mit neuen Prioritäten, Finanzmitteln und verbesserter Organisation neu zu beleben. Ursula von der Leyen ist mit aufgekrempelten Ärmeln mit einigem Ehrgeiz für ihren grünen Deal ins Amt gestartet, bevor ihr der Corona-Virus die Initiative aus der Hand geschlagen hat. Es wäre keineswegs überbordend, die Migrationsfrage zur Chefinnensache zu machen und sich samt zuständiger Kommissarin wesentlich mehr in den arg gebeutelten Brennpunkten europäischer Migration sehen zu lassen. Das jüngste Papier der Kommission kann verbunden mit dem persönlichen Engangement der führenden EU-Politiker vielleich doch noch dieser Neuanfang werden, der es gerne sein würde.


Auch im wohlhabenden beneidenswert sicheren Österreich inmitten der EU hat uns die Heraus-forderung eingeholt, den Umgang mit unterschiedlichen Perspektiven zu lernen. Die Arbeit an diesem Blog hat mich darin noch bestärkt, dass es sich auszahlt, über gangbare Wege zu einem Perspektivenwechsel nachzudenken. Einer, der dies auf beeindruckendem Niveau vorgelebt hat und so viele überraschende Problemlösungen schaffte, war Albert Einstein. Glaubwürdig sagt er daher:


Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.

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