Wahlempfehlungen
Von den schon gewohnten Wahlempfehlungen, deren "Empfehlung" sich darauf berschränkte, auf jeden Fall zur Wahl zu gehen, hob sich eine ab, die ich am 24. Mai auf dem Online-Portal des ORF entdeckte. Die katholischen Bischöfe in der Europäischen Union rufen nach dieser Meldung dazu auf, für proeuropäische Parteien zu stimmen! Auch wenn ihre Argumente für ein Projekt namens EU alles andere als neu sind, ist es am Vorabend der Wahl keine schlechte Idee, auf diese zwar grundsätzlich bekannten, aber gelegentlich vergessenen Gründe nochmals hinzuweisen.
Es wird dazu aufgerufen, bei der Europawahl für proeuropäische Parten zu stimmen. Das vor mehr als 70 Jahren begonnene Projekt für Frieden, Freiheit und Wohlstand müsse "unterstützt und weitergeführt" werden.
Ausdrücklich wird angesprochen, dass die EU keineswegs perfekt ist, weder aus christlicher noch aus allgemein bürgerlicher Sicht. Die Bischöfe stellen aber klar, dass sie sich dazu aufgerufen sehen, sie mit den Mitteln zu verbessern, die uns die Demokratie bietet.
In Konkretisierung dessen bezieht sie auch gleich Position für eine Beitrittsperspektive für Staaten auf dem Westbalkan und in Osteuropa, Rücksicht auf die schwächsten Mitglieder, Bekenntnis zur kulturellen Verschiedenheit als identitätsstiftende Basis für die gemeinsame Wertebasis, sowie gegen Abtreibung als Grundrecht.
Die angesprochene kulturelle Vielfalt zeigt sich auch gleich darin, dass die Kommission der Bischofskonferenzen nur 25 statt der 27 EU-Mitglieder umfasst. Die beiden nicht vertretenen Länder sind aber nicht etwa Polen oder Ungarn, sondern die beiden nördlichsten EU-Länder Finnland und Schweden, in denen die Katholische Kirche eine verschwindende Minderheit darstellt.
Wie ein Kontrastprogramm dazu erscheint die Jüngste Meldung, dass der bulgarischen orthodoxen Kirche (BOK) nach einem gemeinsamen Gottesdienst mit der ukrainischen orthodoxen Kirche (OKU) die Gemeinschaft mit der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) aufgekündigt wurde. Es wird den Bulgaren Gemeinschaft mit Schismatikern vorgeworfen. So hat der Angriffskrieg des christlichen Russland auf die christliche Ukraine auch theologische Positionen und jahrhundertelange historische Realitäten auf den Kopf gestellt. Ob und wann die erschütternde Rolle der ROK in diesem Konflikt jemals aufgearbeitet wird, hängt wohl weniger von der Liebe zur geschichtlichen Wahrheit als vom militärischen Verlauf der begrenzten Sonderoperation abhängen. In Europa mussten die Kirchen alle durch den Spießrutenlauf der Aufarbeitung des 2. Weltkrieges gehen. Auch das hat ihre Haltung zum säkularen Projekt der Europäischen Einigung geprägt.
Zurück nach Österreich. Der Sender Puls24 schaffte zusammen mit der Kronenzeitung bereits eine der klassischen Elefantenrunden für die österreichischen Kandidaten. Für den 5. Juni um 20:15 ist auch auf ORF 2 eine Sendung in diesem Format geplant. Etwas versöhnlicher wirken diese Polit-Shows nach den strapaziösen Einzelinterviews und Konfrontationen zwischen jeweils 2 Kandidaten. Vielleicht ist das auch nur meine eigene Hoffnung, aber trotzdem: war das vielleicht sogar die subtile Nachricht an uns: vielleicht, wahrscheinlich sogar auch miteinander reden zu können? Im Anblick der Repräsentanten viel es gleich leichter, wieder einmal mehr die Besonderheit unserer Demokratie zu schätzen, in der die Vertreter anderer Meinungen nicht nur wegen dieser im Gefängnis sitzen. Unter 9 Millionen Österreichern wird es wohl auch mehr Meinungen geben als es die Anzahl der antretenden Parteien nahelegt. In der Realität sind alle die propagierten und plakatierten Ziele der Wahlwerber erstrebenswert und es wird nicht soviele geben, die eigenen Ziele ausschließlich und anstatt der Ziele der anderen anstreben. Er/sie wäre schließlich schön blöd. Und so blöd sind wir alle nicht. So wie ein Wahlkampf allerdings funktioniert, so wie über die (eigenen) Themen gesprochen wird, da könnten einem diese Bedenken manchmal vielleicht doch kommen.
Im wirklichen Leben der Menschen, ja genau, derjenigen da vorne unter dem Rednerpult vielleicht weniger, aber derjenigen nicht ganz vorne deren Leben dreht sich nicht das ganze Jahr nur um Wahlen. Dort macht man schon mal die Erfahrung, dass man schon mit dem Ehepartner nicht auf einen Nenner kommt, von den Kindern und dem Opa ganz zu schweigen. Dem einen ist die Umwelt sehr wichtig und einem anderen ist das Leben am Arbeitsplatz bei weitem noch nicht fair genug geregetl. Einem dritten geht bei aller Liebe zur persönlichen Freiheit des Einzelnen doch eine konservativ "ordentliche" Familie über alles. Einen vierten ärgert es, dass man noch daran erinnern muss, dass die Arbeitsplätze nicht auf Bäumen wachsen, sondern von jemanden mit großem Risiko und Zeitinvestition, viel Zeit immer wieder auf dem Markt neu verteidigt werden müssen. Das sind alles keine so unvernünftigen Meinungen, mit denen man keinesfalls leben kann! Aber: kann man denn eine Wahl gewinnen, wenn man auch nur andeutet, dass auch die anderen gar nicht so unrecht haben?
Die Wahlveranstaltungen und deren überkommene Rituale sind überdies nur eine von mehreren Baustellen, an denen alle tätig werden müssen, die der Demokratie auch eine Zukunftschance einräumen möchten. An allen Enden und Ecken haben es die Parteien mit digital teil-, halb-, voll-, oder überinformierten Bürgern zu tun. Das Informationsangebot ist so groß geworden, dass es in einen 24-Stunden-Tag nicht mehr unterzubringen ist. Wer wagt die Kampagne, die den Damen und Herren Bürgern zumutet, Internet nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch zur eigenen Orientierung zu verwenden? Können Parteien überhaupt soche unbequeme Fragen aussprechen, wenn sie doch alle paar Jahre wieder gewählt werden müssen, um etwas von dem umzusetzen, was ihnen wichtig ist?
Gerade in einem Jahr, in dem die überwältigenden fortgeschrittenen Leistungen der Künstlichen Intelligenz in aller Munde sind, ist es vielleicht auch an der Zeit, eine gleichermaßen intelligente Form der Demokratie für morgen zu erarbeiten. 20 Milliarden Dollar investierte Microsoft in ChatGPT. Für den Weiterbestand der Demokratie und ihrer Akzeptanz in der Jugend, den EU-Bürgern von morgen und übermorgen sollte es auch den Demokraten aller Parteien und aller Länder eine Investition wert sein unsere Demokratie auf das Niveau zu bringen, das heute bereits technisch und dem Informationsniveau unserer Gesellschaften möglich ist. Man muss zum Glück nicht bei Null beginnen. Schon jetzt sind die Verwaltungsebenen die sich um einen einfachen Bürger eines europäischen Landes "kümmern" enorm. Gemeinde,Bezirk, Bundesland, Nation, EU-Parlament stellen miteinander den derzeitigen Lebensstandard und Rechtssicherheit in diesem riesigen Erdteil Europa sicher. Von Irland bis Zypern, Finnlad bis Malta Europa bereist zu haben, ist in einem Leben kaum zu schaffen. Wie groß auch andere Kontinente sein mögen: Europa ist sehr sehr groß. Dieser Erdteil, der aus schmerzlicher Erfahrung den Kriege in den eigenen Reihen hinter sich gelassen hat, hat das Potential, auch für die Welt eine hoffnungsvolle Rolle zu spielen. Anstatt "Europe first" und "Make Europe great again" (wie zur Zeit der Kolonisation vielleicht?) ist diese friedliche Rolle eine Vision, für die wir uns nicht schämen müssen.
Fast unerträglich schmerzt vor diesem Hintergrund, wievielen Menschen die Früchte einer durch schmerzvollstes Lernen erworbene Zivilisation, ein Zusammenleben in Verschiedenheit, in Würde, ohne Hunger, ohne fortwährende Bevormundung vorenthalten wird. Die Versuchung, Krieg als eine Lösung auch nur eines einzigen Problems zu sehen, ist offensichtlich noch nicht gebannt. Noch immer kann man sich Beifall holen, wenn man Europäer als verweichlicht hinzustellen, weil sie für Kriege keine rechte Begeisterung mehr aufbringen wollen. Doch denen, die es schon vergessen haben, muss man es vielleicht heute nochmals sagen: Krieg, ja das hatten wir schon. Auf diesem europäischen Boden wurde nicht nur mal ein paar Jahre gekämpft, sondern war lange genug grausame Normalität. Noch die Generation meiner Eltern wuchs mit der immer möglichen Drohung eines vielleicht ausbrechenden Kriege statt. Alles das hat letztlich zur Gründung der EU geführt. Das kultivierte Streiten in den europäischen Gremien als Ersatz für das gegenseitige Abschlachten ist eine der größten Erfolge der Menschheitsgeschichte. Es ist jede Mühe wert, dies für die Zukunft zu sichern.
Danke für den kritischen Beitrag. Wenn der Überblick verständlich war,ist dies ja immerhin schon mal etwas. Bezüglich der Schärfe wage ich nicht, große Verbesserungen anzukündigen, weil ich gerade im Zwang, mit Schärfe Aufmerksamkeit zu generieren eine der Schwächen unserer derzeitigen Wahlrituale sehe, was ich ja auch angeschnitten habe. Mit der Kritik an mangelnder Präzision fühle ich mich hingegen voll angesprochen. Diese ist für mich der angestrebte Weg, interessante Blogs zu schreiben. Nicht immer gelingt einem das. Am kommenden Freitag plane ich den nächsten Blog. Da kann man gleich mal nachlesen, ob es dann besser gelingt...
Als Betrag vor der Wahl ein guter Überblick. Leider wurden die brennenden Themen die auch die Politiker meiden nicht angesprochen. Hier wünsche ich mir mehr Schärfe und Präzision um wenigstens hier Themen anzuschneiden, wenn es die Politiker nicht tun.